Selbstbestimmung, die: (Politik, Soziologie) Unabhängigkeit des bzw. der Einzelnen von jeder Art der Fremdbestimmung (z. B. durch gesellschaftliche Zwänge, staatliche Gewalt). (Quelle: duden.de)

„Was sollen die Nachbarn denken?“

Als Kind zeigt uns Pippi Langstrumpf ihre Welt, die sie sich so macht, widewidewie sie ihr gefällt. Wir werden älter und schnell stellen wir fest: So leicht ist es gar nicht, sich die Welt bzw. das eigene Leben so einzurichten, wie es einem beliebt. Denn (fast) immer gibt es jemanden, eine gesellschaftliche Norm, ein Gesetz oder schlichtweg eine Notwendigkeit, die uns die Grenzen des selbstbestimmten Lebens aufzeigen und uns oft allzu leicht dazu bringen, Dinge in unser Leben zu integrieren, die wir so eigenlich nicht wollen. Mache ich wirklich Sport, weil es mir Spaß macht/weil es mir gut tut oder tue ich es nur, weil „man eben Sport macht“? Gefällt mir dieser Modetrend oder gebe ich mich ihm nur hin, weil er in meinem Umfeld, meiner Peer-Group gerade beliebt ist? Habe ich mein Studienfach aus freien Stücken gewählt oder vielleicht nur, um meine Eltern glücklich zu machen oder der Aussicht auf einen „guten“ Job wegen? Bin ich Mitglied der Kirche, weil ich mich mit ihr identifiziere oder einfach, weil ich zufällig in die Familie einer bestimmten Glaubensrichtung hineingeboren wurde?

Ich bin keine Anhängerin gesellschaftlicher Anarchie oder rücksichtslos ausgelebter Individualität. Ein gewisses Maß an Fremdbestimmung tut dem Menschen gut, keine Frage. Gesetze und die konsequente Anwendung dieser sind für ein friedliches Zusammenleben unerlässlich. Auch gesellschaftliche Normen und Werte haben ihre Daseinsberechtigung als Wegweiser durch den schnelllebigen Dschungel der Moderne. Dennoch glaube ich: Ein bisschen mehr Pippi und ein bisschen weniger „Was sollen die Nachbarn denken?“ würde uns gut tun.

Wo ist uns der Mut, die innere Pippi, abhanden gekommen?

Mit den Themen „Tod“ und „Sterben“ kann ich schlecht umgehen, aber wer kann das schon? Einige haben sich im Angesicht von Verlust und Vergänglichkeit besser im Griff als andere, woran das liegt, weiß ich nicht. Mich machen sie traurig, diese Gefühle, bisweilen auch wütend, aber immer nachdenklich. Vor gut einer Woche ist meine Großmutter gestorben, ganz friedlich, einfach nicht mehr aufgewacht. Es war nicht überraschend, aber als es dann passierte, irgendwie schon. Sie erwischt einen kalt, eine Todesnachricht. Meine Großmutter war schon lange krank, zum Schluss schwer dement. Sie lebte in ihrer eigenen Welt, in der sie Dinge sah, die nicht da waren und von Menschen besucht wurde, die schon vor Jahrzehnten verstorben sind. Über die Traueranzeige schrieben meine Eltern und mein Großvater: „Einschlafen dürfen, wenn man das Leben nicht mehr selbst gestalten ist, ist Erlösung und Trost für alle.“ Da ist sie wieder, die Selbstbestimmung, wenn auch hier in einem anderen Kontext.

Meine Großmutter führte die letzten Monate kein selbstbestimmtes Leben mehr, brauchte rund um die Uhr Betreuung. Aber wie bei so vielen anderen ihrer Generation waren vermutlich wenige Aspekte ihres Lebens wirklich selbstbestimmt. „So weer dat eben“, würde sie dazu sagen, wenn ich sie auf Arbeit im Haus, Arbeit auf dem Feld, Arbeit im Stall und Kindererziehung anspräche. Man machte eben, was getan werden musste, besonders als Selbstversorger auf dem Dorf.

Mit den Themen „Tod“ und „Sterben“ kann ich schlecht umgehen. Sie machen mich nachdenklich, lassen mich das Leben des verstorbenen Menschen reflektieren und dann zwangsläufig auch mein eigenes. Ich weiß nicht, ob das normal ist; vielleicht kommt es auch auf die aktuelle persönliche Lebenssituation an. Meine Großmutter hatte kein selbstbestimmtes Leben, aber sie hatte im Nachkriegsdeutschland auch keine große Wahl. Heute sind die Lebensumstände komplett anders. Es gibt Materielles im Überfluss, wir leben in einer Wissensgesellschaft, Informationen verbreiten sich dank Digitalisierung rasend schnell. Die Möglichkeiten, sich weiterzubilden und seinen Interessen nachzugehen sind so vielfältig wie noch nie. Warum stecken dann trotzdem so viele Menschen in unglücklichen Beziehungen und verhassten Jobs fest oder hängen ungeliebten Konventionen an?

Ich frage mich: Wenn wir in der heutigen Zeit kein selbstbestimmtes Leben führen, sind wir dann feige und selbst Schuld? Haben wir uns mit einer „Eigentlich-geht-es-uns-ja-nicht-so-schlecht-Einstellung“ bequem eingerichtet und nehmen Fremdbestimmung dafür grummelnd in Kauf? Fehlt uns schlicht der Mut, an uns selbst und das, was wir gut können, was wir gerne machen, was wir sind, zu glauben? Und wenn ja, wo ist uns dieser Mut, unsere innere Pippi, abhanden gekommen?

„Ich mach das jetzt einfach!“

Mit einer lieben Freundin habe ich diese Woche u. a. über berufliche Umorientierung und auch über gesellschaftliche Normen gesprochen. Gerade Ersteres ist ein omnipräsentes Thema für mich im Moment, das mir schlaflose Nächte bereitet. Wir kamen zu dem Schluss, dass im Bereich der schulischen, aber v. a. auch im Bereich der beruflichen Aus- und Weiterbildung vieles nur über Zwang läuft, denn: „In Deutschland brauchst du für alles einen Zettel, auf dem draufsteht, dass du dies und das gemacht und bestanden hast.“. Ob du das, was du gelernt hast, auch wirklich kannst, ob du dafür brennst – das interessiert nicht.

Ich z. B. mache das Referendariat inzwischen nur noch für diesen „Zettel“, der mich beruflich nicht weiterbringt, weil ich einen Job im schulischen Kontext – auch im erweiterten (Schulbuchverlag etc.) – für mich ausschließe. Und, weil „man es eben zu Ende macht“. „Man“ bricht keine Ausbildung ab, egal wie sinnlos sie einem erscheint, denn das „macht man einfach nicht“. Diesen „man“ würde ich schon gerne mal kennenlernen, wo er doch so eine große Macht über das Leben so vieler, auch über meins, hat. So quälen wir uns, getrieben von Angst und Unsicherheit, durch unpassende Ausbildungen, weil wir gesellschaftliches Unverständnis fürchten. Weil wir uns die Möglichkeit offenhalten wollen, doch in dem verhassten Beruf arbeiten zu können, denn „man weiß ja nie“. Pippi würde die Hände über dem Kopf zusammenschlagen und vor Schreck den Kleinen Onkel fallen lassen.

Denn Hand aufs Herz: Auch diejenigen, die bei der Berufswahl im ersten Versuch den Volltreffer gelandet haben, haben garantiert mindestens diese eine Person im Freundeskreis, die irgendein Talent hat, dieses beruflich aber nicht nutzt: die einen Draht zu Kindern hat, die tollsten Torten backt, mit Leidenschaft bei der Freiwilligen Feuerwehr ist oder großartige Geschichten schreibt. Natürlich kann man selbstbestimmt entscheiden: Dies ist mein Beruf, dies ist mein Hobby und hier eine klare Linie ziehen. Natürlich kann ein Mensch mehr als ein Interessengebiet und eine herausragende Fähigkeit haben. Ich sage nicht, dass die leidenschaftliche Ärztin ihren Job an den Nagel hängen soll, um Vollzeit-Feuerwehrfrau zu werden. Aber noch einmal Hand aufs Herz: Wenn man sich diese eine Person im Freundeskreis näher anschaut – steckt dann im Beruf genausoviel Herzblut und Leidenschaft wie im Hobby? Ich behaupte: In der Mehrzahl der Fälle ist das nicht der Fall. Ich könnte jetzt zig Beispiele aufzählen. Von der Schulfreundin, die Tierärztin oder Pferdewirtin werden wollte, selber zwei Pferde hat und nun Buchhaltung macht; von dem überragenden Schlagzeuger, der Lehrer ist – der Sicherheit wegen; von der talentierten Zeichnerin, die dann doch Kulturwissenschaften studierte und nun in einem großen Verlag arbeitet.

Ich urteile nicht über die Leben anderer, jeder entscheidet für sich allein, wie viel Selbst- und wie viel Fremdbestimmung er braucht. Ich frage mich nur, was wir für ein Land, was wir für eine Gesellschaft sein könnten, wenn jeder einzelne von uns sich bei der Berufsfindung mehr zutrauen würden. Wenn wir uns gegenseitig mehr Freiraum gäben, weniger über „man“ und mehr über „ich“ bzw. „wir“ nachdächten und dass, was uns packt, uns fesselt, unser Herz berührt zu unserem täglich Brot machen würden. Wenn wir Umorientierung, Neuorientierung und Wagemut begrüßen würden, wenn Scheitern okay und „Ich mach das jetzt einfach!“ unser Lebensmotto wäre.

Laut UN-Bericht leben die glücklichsten Menschen in den Ländern, in denen sie die Freiheit haben, selbst Entscheidungen über ihr Leben zu treffen. Die Deutschen landen hier auf dem 26. Platz. Mit etwas mehr Pippi wäre bestimmt noch mehr drin.

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(Quelle)